Mein Vater gehört zu den Menschen, die am Wochenende genüsslich die Süddeutsche Zeitung studieren. Zu diesem wöchentlichen Ritual gehört das sorgfältige Öffnen der riesigen Zeitungsbögen, gefolgt von einem komplexen Faltvorgang, um die Zeitung zum Lesen einzelner Artikel wieder auf ein handliches Format zu bringen. Abschließend bedarf es einer gut einstudierten Origami-Technik, um die einzelnen Bögen wieder zu einem geordneten Stapel zusammenzufügen. So kann sich mein Vater schon einmal einen ganzen Sonntag beschäftigen.
Für ihn gehört das Hantieren mit den riesigen Zellstoff-Planen zweifellos zum Erlebnis dazu. Doch wie sind die Zeitungen eigentlich zu ihrem XXL-Format gekommen? Es muss doch irgendeinen Sinn haben, dass sich diese Größe durchgesetzt hat und zur Best Practice geworden ist.
Warum sind große Zeitungen zur Best Practice geworden?
Früher dachte ich, das Format hätte sich aus Kostengründen durchgesetzt, weil größere Bögen günstiger zu produzieren seien. Doch das stimmt nicht. Das Gegenteil ist sogar der Fall: Es wäre für die Verlage günstiger, auf ein kleineres Format umzusteigen.
Doch die Verlage scheinen alle meinen Vater als Zielgruppe im Sinn gehabt zu haben. Den Genussleser, der sich am Wochenende in Ruhe durch die Papierberge arbeitet. In der Annahme, dass sich die Leser großformatige Zeitungen wünschen, lag die Verlagsbranche jedoch jahrzehntelang falsch.
Niemand hatte diese Best Practice der Branche ernsthaft in Frage gestellt, bis der britische Independent 2004 auf das kleinere „Tabloid“-Format umstellte – und seine Auflage damit stark steigerte. Zahlreiche andere Verlage zogen seitdem nach und erhöhten ihre Auflagen ebenfalls. Die Branche war in die Best-Practice-Falle getappt.
Sinn und Unsinn von Best Practice
Der Gedanke der Best Practice ist der Wunsch, dass es für jedes erdenkliche Problem eine optimale Lösung geben muss, die jemand anderes schon mal gefunden hat. Wie praktisch: Du musst nicht selbst kreativ werden, sondern nur denjenigen mit der passenden Lösung finden. Schon kannst du nichts mehr falsch machen.
Kein Wunder, dass Best-Practice-Lösungen bei Beratern so beliebt sind. Ein klein wenig benchmarking bei der Konkurrenz und schon weiß ich, wie ich mein Geschäft optimieren kann.
In vielen Fällen macht das sogar Sinn. Nämlich dann, wenn es um standardisierte Abläufe und identische Prozesse geht. Bei der Buchhaltung kannst du dich getrost auf die Best Practice verlassen. Ebenso bei Logistik, IT, Recht, Steuer und Finanzen. Auch, dass man hierzulande auf der rechten Straßenseite fährt, ist eine Best Practice, die ich dir ans Herz legen kann.
Also alle Bereiche, die NICHT das Geschäftsmodell deines Unternehmens betreffen, sondern nur administrativen Zwecken dienen.
Diese Dinge kannst du dir getrost von der Konkurrenz abschauen. Bei allem, was deine Kernkompetenzen angeht, ist jedoch höchste Vorsicht geboten. (Siehe auch: Wie du mit Konkurrenz umgehen solltest)
Die Gefahren von Best-Practice-Lösungen
Ich kann verstehen, dass du dir gerne die Erfolgsgeheimnisse deiner Konkurrenz zunutze machen würdest. Die Risiken sind jedoch erheblich:
1. Best Practice ist kalter Kaffee
Was heute Best Practice ist, beruht auf historischen Entwicklungen. Es hat in der Vergangenheit funktioniert und ist heute quasi Standard. Indem du dem Branchenstandard nacheiferst, rennst du nur deinen Mitbewerbern hinterher. Doch die entwickeln sich auch weiter und sind dir so immer einen Schritt voraus.
2. Best Practice ist morgen schon Old-School
Dass sich Verfahren als Best Practice etabliert haben, bedeutet nicht, dass diese Konzepte zukunftssicher sind:
“Die größte Gefahr für unser Geschäft ist, dass ein Tüftler irgendetwas erfindet, was die Regeln in unserer Branche vollkommen verändert.“
Bill Gates
3. Best Practice macht dich austauschbar
Je mehr du dich auf deine Konkurrenz konzentrierst und nach bewährten Lösungen suchst, desto austauschbarer und mittelmäßiger wird dein Unternehmen. Dein Ziel sollte nicht sein, für alle(s) gut zu sein, sondern in einem Bereich herausragend. (Mehr zum Thema Spezialisierung)
4. Die Best-Practice-Falle
Die schlimmste Ausprägung des Nacheiferns ist die Best-Practice-Falle: Wenn sich eine ganze Branche auf dem Holzweg befindet. Nur weil alle es machen, muss es noch lange nicht gut sein. So wie die Verlagsbranche aus dem obigen Beispiel. Großformatige Zeitungen sind zwar praktisch, wenn du die Wohnung streichen willst. Die meisten Leser wünschen sich ihre Nachrichten jedoch in einem lesefreundlichen Format.
Best Practice ist Feind der Innovation
Es ist gar nicht so unüblich, dass eine ganze Branche an etwas festhält, das längst überholt ist. In gesättigten Märkten ist dieses Phänomen sehr verbreitet. Die Unternehmen schmoren im Saft ihrer guten Gewinne mit bewährten Methoden, bis etwas Einschneidendes passiert, das alles auf den Kopf stellt.
Kein Mensch kauft Schuhe online!
Dachte der Einzelhandel, bis Tony Hsieh den Online-Schuhhändler Zappos gründete. (Das hier bekannte Zalando ist nur eine Kopie der Samwer-Brüder.) Heute ist online Schuhe kaufen Alltag. Ebenso Brillen, Medikamente, Kleidung und andere früher undenkbare Waren.
Kein Mensch will bei einem Wildfremden übernachten!
Dachte die Hotelbranche. Heute vermittelt AirBnB die meisten Übernachtungen weltweit. Ohne eine einzige Unterkunft zu besitzen. Genauso selbstverständlich steigen Menschen zu Fremden ins Auto oder lassen ihre Waren zu ihnen liefern, wenn sie selbst nicht zu Hause sind.
Kein Mensch zahlt für gute Ideen!
Denkt bis heute meine eigene Branche, die Werbeindustrie. Und verschenkt ihr wertvollstes Kapital – ihre Ideen – für Pitches, die kaum Geld bringen. Um die Gewinne dann mit kaum kreativem Brot-und-Butter-Geschäft zu erwirtschaften. Heißt im Klartext: Die kleineren Kunden müssen dafür zahlen, dass sich die Werbeagenturen bei prestigeträchtigen Marken anbiedern können. Wenn du nicht BMW mit deinen Aufträgen subventionieren willst, such dir eine Agentur, die nicht an Pitches teilnimmt.
(Lesetipp, wenn du betroffen bist: Das Win without pitching Manifesto von Blair Eins)
Kein Mensch will einen Elektro-Sportwagen
Dachte die Automobilbranche über Tesla. Lieber griffen sie tief in die Trickkiste, um schmutzige Dieselmotoren als umweltfreundliche Wundermaschinen zu tarnen. Hoffentlich kam der VW-Skandal rechtzeitig für die deutsche Automobilindustrie, um Jahre versäumter Entwicklung nachzuholen. (Lesetipp: VW-Gate: Das Beste, was VW passieren konnte)
Auf einem jungen, sich noch entwickelnden Markt, bringen dir schon kleine Innovationen einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Je gesättigter der Markt geworden ist, umso mehr kannst du nur durch Anderssein aus der Masse hervorstechen. Best Practice ist hier nur eine Sackgasse.
Wie du Innovationen schaffst
Um mehr Innovationskraft zu entwickeln, solltest du dich deshalb weniger an deinem Wettbewerb orientieren, als an dir und den Fähigkeiten deines Teams. Die Konkurrenz ist mehr ein Maßstab dafür, was du anders machen, als was du nachahmen solltest.
Diese Fragen helfen dir dabei, deinen eigenen Weg zu finden:
Welche Stärken haben meine Mitbewerber?
Jeder deiner Konkurrenten hat sicherlich ganz eigene Stärken und Schwächen. Sie in ihrem Fachgebiet zu schlagen, wird bei einem etablierten Mitbewerber schwer. Vergleiche lieber ihre Stärken mit deinen eigenen, um Bereiche zu finden, in denen du sie überholen kannst. (Mehr dazu, wie du deine Nische findest)
Welche meiner Stärken vernachlässige ich bisher?
In jedem Unternehmen gibt es viele Stärken, die unberücksichtigt bleiben. Einfach, weil bewährte Prozesse sie bislang nicht gefordert haben. Welche Stärken liegen da noch im Verborgenen? Wie kannst du sie auf eine neue Art in dein Unternehmen einbringen, um Innovationen zu schaffen?
Welche sind die idealen Kunden für meine Mitbewerber?
Best-Practice-Lösungen basieren immer auf Prozessen, die sich in bestimmten Fällen bewährt haben. Wenn du sie dir zu eigen machst, konkurrierst du aber um dieselben Kunden. Versuche deshalb herauszufinden, für welche Kunden die Lösung einst entwickelt wurde. Dann erkennst du auch, wer dabei außen vor gelassen wurde und damit nicht ganz glücklich ist.
Welche Kunden sind bei mir genau richtig?
Wer ist der ideale Kunde, der am meisten von deinen Leistungen profitiert? Warum sollte er zu dir gehen und nicht zur Konkurrenz? Warum liegt dir dieser Kunde nicht nur geschäftlich am Herzen, sondern auch persönlich?
Was hält deinen Kunden noch vom Kauf ab?
Kunden haben selten nur ein Problem. Häufig sind weitere Hindernisse damit verknüpft, die sie zögern lassen oder die sie vielleicht selbst noch gar nicht identifiziert haben. Zu mir kommen des öfteren Kunden, die sagen, dass sie nur eine Website wollen. Sie wollen damit Werbung für ihr Unternehmen machen, wissen aber nicht, welches Ziel die Website in ihrem Marketing-Mix erreichen soll. Oder woher die Besucher kommen.
Finde die versteckten Hürden deiner Kunden und du kannst ein Angebot machen, das jede Best-Practice-Lösung alt aussehen lässt.
Und last but not least: Was treibt dich an?
Warum stehst du jeden Morgen früh auf, um an deinem Unternehmen zu arbeiten? Und warum sollten sich deine Kunden dafür interessieren? Die Leidenschaft für eine Idee ist etwas, das den meisten Unternehmen fehlt. Dabei ist sie nicht nur Grundlage für deine Motivation, sondern oft auch das Bindeglied zwischen dir und deiner Zielgruppe. Und nicht zuletzt der Kompass für die Entwicklung deines Unternehmens. (Warum dein Warum so wichtig ist)
Hinterfrage regelmäßig deine eigenen Best Practices
All diese Fragen solltest du dir regelmäßig stellen. Nicht nur bei der Gründung deines Unternehmens sind sie entscheidend, um deine Positionierung zu finden. Sie helfen dir auch, deine eigenen Best Practices zu überprüfen.
Egal, ob du als Einzelunternehmer tätig bist oder bereits 1.000 Angestellte hast: Es schleichen sich erstaunlich schnell festgefahrene Meinungen und Prozesse in dein Geschäft ein, die dann nicht mehr hinterfragt werden.
Das hat einmal für Kunde A gut geklappt, wir nehmen den selben Ansatz deshalb auch für Kunde B, C, D … und Z.
Nimm dir regelmäßig Zeit, deine Gewohnheiten zu hinterfragen, damit es dir nicht irgendwann einmal so ergeht, wie den Zeitungsverlagen. Die haben auch ganz vergessen, wie sie eigentlich zu ihrem Riesen-Format gekommen sind:
Grund dafür war eine Steuer aus dem Jahre 1712, mit der die britische Regierung Zeitungen aufgrund ihrer Seitenzahl zur Kasse gebeten hat. In Folge dessen hat es sich für die Zeitungen gelohnt, ihre Nachrichten auf größere Bögen zu drucken, um Seiten einzusparen.
Die Steuer wurde 1855 wieder abgeschafft. Doch die seriösen Tageszeitungen blieben ihrem Großformat treu, weil sie sich kein anderes Format mehr vorstellen konnten. Erst knapp 150 Jahre später hat sich der Independent getraut, diese Gewohnheit in Frage zu stellen. Mit Erfolg. (Quelle: Harvard Business Manager: Vorsicht bei Best Practice vom 8.3.2013)
Meinen Vater freut’s. Er kann sich sein sonntägliches Lesevergnügen sicher auch nicht mehr ohne Zeitungs-Origami vorstellen. Der kriselnden Verlagsbranche hilft das aber wenig.
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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Danke fürs Artikel! es hilft mir sehr bei miener Recherche über Good Practices in Kundenservicebereich
Das freut mich, danke! Viel Erfolg mit deiner Arbeit!